Festrede 2000
Festrede von Otto Herz
- anläßlich des 10jährigen Bestehens des Chemnitzer Schulmodells -
Damit ich keinen vergesse, sage ich : Liebe Geburtstagskinder !
10 Jahre, das heißt Vor-Pupertät, die wilden Jahre kommen erst noch. - Die dramatischste Veränderung passiert in der Pupertät.
Ich will mit einem Kompliment beginnen.
In der Bundesrepublik gibt es etwa 40.000 allgemein-bildende Schulen und etwa 20.000 berufsbildende, also sagen wir, etwa 60.000 Schulen. Und wenn man sich anschaut, wo es wirklich substantielle Innovationen gibt, dann kann man die an ein paar Händen abzählen.
Amerikanische Schulforscher die sich mit der Frage beschäftigen, wie schnell sich Schulen verändern, kommen zu dem Ergebnis: "Schools change slower than Churches."
Und wenn man sich klar macht, daß die Kirchen ja eine gewisse Nähe zu Ewigkeitslehren haben, dann weiß man, was damit gesagt ist.
Innovationen überhaupt und insbesondere im Schul- und Bildungswesen sind das Werk aktiver Minderheiten.
Eine solche aktive Minderheit seid Ihr alle, die Ihr das CSM auf den Weg gebracht habt, gewesen. Und ich wünsche mir, daß trotz der Pupertät, die vor Euch steht, sie ähnlich vergnüglich farbig und bunt und sonnig wie der heutige Tag wird.
Ein Blick nach vorn auf die nächsten zwei Jahrzehnte
Als ich mir überlegt habe, was ich heute sagen sollte, da habe ich natürlich gedacht: „Was 10 Jahre zurück liegt, das wißt Ihr alle besser als ich, schaue ich einmal 10 Jahre nach vorn.“
Die Menschen, die sich im internationalen Bereich mit Veränderung von Schulen beschäftigen, die reden weniger über das Jahr 2010, sondern die reden überwiegend über das Jahr 2020. Und deswegen mache ich jetzt gleich einmal einen größeren Satz – nach dem Jahr 2020.
Und warum redet man über das Jahr 2020? - Da gibt es drei Gründe dafür:
Den ersten kann man ‚freundlich‘ nennen. Das ist der Zeitraum, wo die Mehrzahl der Pädagogen, die gegenwärtig im Schuldienst sind, noch alle ihre Reformlust austoben.
Es gibt aber auch eine pessimistisch Variante. Man wählt das Jahr 2020, weil dann die bestimmenden Kräfte des gegenwärtigen Schulsystems nicht mehr in der Schule sind. Und das hält man Land auf, Land ab für eine notwendige Bedingung, damit wirklich noch einmal wichtige Reformen stattfinden!
Der dritte Grund, weshalb man das Jahr 2020 wählt, ist, daß das die Zeit ist, wo die Personen, die Generation die gesellschaftliche Verantwortung in der Breite übernehmen werden, die mit den modernen Medien wie als ‚Bruder und Schwester‘, wie ‚mit der Muttermilch aufgezogen‘ aufgewachsen sind.
Und die Annahme ist, daß diese dritte - oder je nachdem, wie man es nimmt - die vierte technologische Revolution so nachhaltige Wirkungen hinterlassen wird, daß im Blick auf diese neue - ich sage nicht gute, aber neue Welt - vieles sehr gründlich und neu bedacht werden muß, weshalb es wahrscheinlich nicht ausreicht zu sagen: Das, was wir die letzten 10 Jahre gemacht haben, setzen wir es doch einfach die nächsten 10 Jahre so fort! Das wäre das Ende dieser Schulen.
Zwei denkbare Zukunftsmodelle in der Diskussion
Vor ein paar Jahren haben sich Menschen aus der ganzen Welt, die sich mit den Perspektiven der Schulen im 21. Jahrhundert beschäftigen, in Silicon valley auf Einladung von Macintosh getroffen - also an dem Ort, wo sich die Hochtechnologie der USA trifft - unter der Fragestellung: „ Wie wird die Schule im Jahre 2020 aussehen?"
Das Ergebnis dieser großen international zusammengesetzten Zukunftskonferenz waren zwei Modelle.
Die eine Gruppe sagte, 2020 gilt: "School is out. Lerning online."
Sie wissen, die Schule als Angebot für alle in Deutschland ist etwa 200 Jahre alt. Davor haben die Menschen 1.800 Jahre anders gelernt als in der Schule. Daß Schulen geschaffen worden als eine besondere pädagogische Institution, ist nicht naturbedingt, sondern war ab einem bestimmten Zeitpunkt eine kulturelle Erfindung - also eine relativ junge kulturelle Erfindung. Und etwas, was aus einem bestimmten historischen Grund entstanden ist, das kann auch aus einem bestimmten historischen Grund - obwohl uns das wahrscheinlich, insbesondere als verbeamtete Lehrer, relativ schwer fällt, uns dies vorstellen zu können - wieder verschwinden.
Die Frage ist: Ist das einfach Spielerei ? Ich denke, die Fraktion, die die These "School is out. Lerning online." vertreten hat, hatte viele gute Gründe gehabt.
Wenn ich mit wenig Geld, an jedem Ort der Erde, mit einem kleinen Mausklick die Gesamtmenge dessen, was die Menschheit bisher an Wissen und Erkenntnis zusammengetragen hat, abrufen kann, ist dann noch eine Einrichtung sinnvoll, wo man sich streitet über‘s Zuspätkommem? Ist das nicht hoffnungslos antiquiert?
Ich könnte ohne dieses Gerät (PC) nicht mehr leben. Mein ganzes Leben steckt in dieser kleinen Maschine. Und viele Länder - von denen wir sagen, sie seien Dritte Welt - sind in diesem Bereich sehr viel weiterentwickelt, als unser hochentwickeltes Land. Sie kennen die Diskussion in der Gegenwart.
Ich bin nach meiner Amtszeit nach Indien gegangen, da gibt es in abgelegenen Dörfern Plätze, wo die Computer stehen, und die Kinder spielen eigenständig daran. - Das sind die Leute, die Gerhard Schröder mit den Greencards sucht - und die er (hier) nicht findet, denn Lernen wird plötzlich nicht mehr zu einem Vorgang der Belehrung von dafür professionell beschäftigten Personen, sondern in einem hohen Maße zu einem Prozeß des Selbst-Entdeckens heterogener Gruppen, die an einer Sache arbeiten, bis sie die Lösung gefunden haben - und nicht bis es klingelt.
Deswegen habt Ihr gute Chancen! Bei Euch klingelt‘s nicht!
So viel zu "School is out"! Dies ist nicht mehr die adäquate Form zu lernen, sondern das wird in einer sich stark verselbständigenden Art und Weise geschehen, zu allen denkbaren Tages- und Nachtzeiten, in freiwilliger ‚Zusammenrottung‘ von Menschen etc.
Es gab eine zweite Position, und die ist ziemlich das Gegenteil, aber auch nicht die Fortsetzung der jetzigen Schule, daran glaubt eigentlich sowieso niemand mehr: Die Zukunft der Schule als Lernklöster.
Und warum kamen die auf diesen Gedanken? Sie haben gesagt, wenn das so ist, daß jeder Mensch an jedem Ort die Gesamtheit des Wissens der Menschheit mit einem Mausklick abrufen kann, dann werden die Antworten auf die Fragen bedeutsam:
Worauf kommt es an? Was lohnt sich zu wissen? Was hilft meinem Leben? Nebensätze? Nebenflüsse? Partizipialkonstruktionen? Das, was nicht überlebensfähig macht?
Und da gibt es ein wichtiges Problem, nämlich: Sich davor zu schützen, daß wir nicht im Informationsmüll ‚ersaufen‘ - je mehr wir wissen, je mehr uns zur Verfügung steht, je mehr die Beschleunigung des Wissenszuwaches stattfindet, wo ohnehin keiner wissensmäßig hinterherkommt. – Nur, in der Schule tut man so, als sei man an der Spitze der Bewegung! Also: Worauf kommt es an? Auf Lernklöster, in denen die Notwendigkeit, sehr präzise, meditativ darüber nachzudenken, was sich zu wissen lohnt, was zu lernen lohnt, gesehen wird?
Was sind die wichtigen Fragen? Wie kann ich ihnen gerecht werden? - Das wird in den Mittelpunkt treten und nicht die Durcharbeitung von Lehrstoff!
Zwei sehr unterschiedliche, sehr gegensätzliche Meinungen! Aber ich habe ja auch gesagt, Macintosh hat einladen lassen und nicht irgendwelche antikapitalistischen Spinner oder zu alt gewordene Hippies. Und ich habe gesagt, es sind gegensätzliche Positionen, aber sie sind unterschwellig tief miteinander verbunden.
In einer expandierenden Wissensgesellschaft wird die Frage des Sich-Besinnens von herausragender Bedeutung. Und wenn ich mir viele Details der Realität des Chemnitzer Schulmodells anschaue, dann läßt es sich charakterisieren mit: Momente des Besinnens.
Nicht, weil irgendeine Mechanik alle 45 Minuten so ein Scheppern auslöst, bestimmt die Planung, sondern: Ich arbeite an einer Sache so lange, bis ich sie gelöst habe.
Epochen sind der Versuch aus den ‚Fetzen-Stunden‘ auszutreten, um an einer Sache kontinuierlich zu arbeiten.
Der normale Stundenplan von 59.900 Schulen sieht etwa so aus: Von 8.00 Uhr bis 9.00 Uhr beschäftigt man sich mit Nebensätzen, von 9.00 Uhr bis 10.00 Uhr mit Nebenflüssen, von 10.00 Uhr bis 11.00 Uhr soll man ein Verhältnis zum ‚lieben Gott‘ aufbauen, von 11.00 Uhr bis 12.00 Uhr soll man seine Gliedmaßen an eine ziemlich einfallslose Einrichtung wie eine Reckstange halten, und die Stunde von 12.00 Uhr bis 13.00 Uhr fällt aus wegen hohem Krankheitsstand im Kollegium. Das ist der normale Stundenplan in ca. 99 % der Schulen in der Bundesrepublik! Und die interpretiere ich als die organisierte Lern-Verstörung, aber nicht als eine hilfreiche Struktur, um sich zu besinnen auf wichtige Sachen, an denen man ausdauernd mit Leidenschaft arbeitet, wo man sich mit den Widerständen, die unvermeidbar sind, auseinandersetzen muß.
Die Schule als ein Ort in der Gesellschaft, wo die Vielfalt der Menschen in Gemeinsamkeit und Unterschiedlichkeit zusammen ihr Leben entwickeln und gestalten
Wenn das nicht ganz unsinnige Gedanken sind, die sich Menschen machen, wie das mit dem Lernen weitergeht, dann ist natürlich die Rückfrage naheliegend, soll man sich jetzt so allmählich auf die näherliegende Pensionierung einstellen? - Das wäre es dann, das ist es dann gewesen!
Würde es an Schulen primär um die Frage gehen, wie der Einzelne am schnellsten bestimmte Wissenselemente lernt, dann sollte man sie schließen! - Dafür gibt es erfolgreichere Mittel! Für individuellen Lernzuwachs gibt es etwas Vernünftigeres, als 25 oder 30 in so einen vergrößerten ‚Kaninchenstall‘ zu sperren.
Und Lernklöster haben ja den Hauch des Seltenen, insofern bleibt eine Frage:
Was macht vielleicht dann dennoch die allgemeine öffentliche Schule so wichtig? Und weshalb ist sie vielleicht doch durch nichts anderes zu ersetzen?
Meine Antwort darauf lautet:
Es ist nicht die Frage des individuellen Wissenszuwachses! Und es kann nicht begründet werden mit der elitären Meditation der Lernklöster! Sondern: Eine Gesellschaft, die sich selbst Gehalt und Halt geben will, braucht einen Ort der gemeinsamen Begegnung!
Das Zusammenleben zu lehren, das ist die wichtigste Aufgabe von Schulen. - Und nur das rechtfertigt die allgemeine öffentliche Schule. Das Bildungswesen ist so teuer, auch wenn alle finden, es wird zu wenig dafür ausgegeben.
Die Schule als einen Ort in der Gesellschaft zu haben, wo die Vielfalt der Menschen in Gemeinsamkeit und Unterschiedlichkeit zusammen ihr Leben entwickeln und gestalten, deswegen brauchen wir die gemeinsame Schule für alle und nicht Leute, die ans gymnasiale Chromosom glauben! - Das hat noch niemand gefunden.
Heterogenität der Besonderheiten jeder einzelnen Person und
des Lernens der Achtung vor einander und für einander und
der Förderung von jeden für jeden, weil jeder in irgendeiner Weise kompetent ist,
das ist die nach wie vor nicht (kleinzukriegende) entscheidende Grundlage eines demokratischen Gemeinwesens, wenn es sich nicht selbst auflösen will.
Dieses Modell wird aber nur eine Chance haben, ist meine Voraussage. - Und damit Sie sehen, daß das mit den "Schools change slower than Churches" nicht ganz falsch ist, das Folgende:
Als wir, die wir die Laborschule Bielefeld auf den Weg gebracht haben, 1970 gesagt haben, wir wollten in der 3. Klasse mit Schulbildung Englisch anfangen, gab es zwei Reaktionsweisen. Die einen: "Die sind verrückt". Und die anderen, die es am besten gar nicht wahrnehmen wollten - dann stört es sie nicht.
Vor 30 Jahren haben wir angefangen, dies zu denken – und, wie schön: In Nordrhein-Westphalen ist letztes Jahr gewählt worden, und da ist die Kultusministerin in den Wahlkampf gezogen und hat gesagt, ab dem Jahre 2003 (da ist sie nicht mehr Ministerin) soll in NRW in allen Grundschulen ab dem 3. Jahr Englisch beginnen - nach 30 Jahren.
Ich sehe auch nicht, daß der sächsische Staat eine besonders intensive Nutzung seiner herausragenden Reformschulen in Sachsen für das allgemeine Schulwesen praktiziert, des Chemnitzer Schulmodells und des Nachbarschaftsschule in Leipzig, daß er das ausschöpft. Bisher gucken auch sie großzügig weg. - Sie könnten ja irritiert werden...!
‚Kleine Flitzer‘ werden für Erkundungstouren gebraucht
Meine These ist:
Das Bildungswesen, das Schulwesen ist ein so großer behäbiger Tanker, der sich nur bei der Schnelligkeit gesellschaftlicher Veränderungen hinreichend mobil verhalten kann, wenn er gewissermaßen ‚kleine Flitzer‘ hat, schnelle und ungewöhnliche Schiffe, die schon mal Erkundungstouren machen in unsicheres Gelände.
Mehr Experimantalschulen notwendig. Und: Arbeiten an einer neuen Lernkultur
Und deswegen heißt meine Forderung, seit ich dem letzten Bundespräsidenten, Roman Herzog, geantwortet habe, es müßten eigentlich 10% - oder seien wir großzügig, sagen wir 1% - von den 60.000 allgemeinbildenden Schulen in der Weise besondere Experimentalschulen sein, wie Sie es hier sind und die Nachbarschaftsschule in Leipzig; bisher zu wenige für ein so bedeutungsvolles großes Land!
Gibt es ein Mittelding zwischen "School is out" und Lernklöstern ? Ja, ich denke, es gibt ein
Arbeiten an einer neuen Lernkultur.